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Frankfurter Rundschau – Kritik: Mörderische Diagnose

Frankfurter Rundschau 20.03.1999

Die Kritik

Mörderische Diagnose (ARD)

Gut belegt

Der Titel unterscheidet sich im reißerischen Ton kaum von den unzähligen Krimiserien, die den lieben langen Abend auf diversen Kanälen  ausgestrahlt werden.


Glücklicherweise hält der Titel nicht, was der Inhalt verspricht. Silvia Matthies hat sich wieder einmal mit einem brisanten medizin-ethischen Thema befasst und seine Auswirkungen auf das gesellschaftliche zusammenleben beleuchtet. Diesmal ging es um die sogenannten Spätabtreibungen von behinderten Föten. Denn mit der Gesetzesänderung zum Schwangerschaftsabbruch kann heute praktisch bis zum letzten Tag vor der Geburt abgetrieben werden. Ein Problem, das viele Politiker bei der Erarbeitung der Gesetze nicht gesehen haben – oder nicht sehen wollten.


Matthies zeigt in ihrem Beitrag eindringlich, in welche Konflikte Eltern, aber auch Ärzte geraten und wie sich in der Gesellschaft ein zunehmend inhumanes Klima gegenüber behindertem Leben breit gemacht hat. „Die vorgeburtliche Rasterfahndung“ führt dazu, belegt Matthies, dass die „Existenz behinderten Lebens nicht mehr erwünscht ist.“


Die Autorin führt zugleich vor, dass diese Tendenz zur Selektion nicht normgerechten Lebens verschiedene Ursachen hat. Sie ist begründet in dem Wunsch vieler Eltern, ein makelloses Kind zu bekommen; in dem Streben der Industrie, den Markt für vorgeburtliche Tests auszuweiten: in der Sicht von zahlreichen Medizinern, kein behindertes Kind zuzulassen; in Politikern, die die Augen verschließen und nicht zuletzt in Gerichtsurteilen, die die Geburt behinderter Kinder als „vermeidbaren Schaden“ bezeichnen.


Dabei, das macht Matthies klar, ist dies erst der Anfang. Mit der zunehmenden Entschlüsselung der Gene wird der Mensch immer mehr Wissen darüber erhalten, welche Krankheitsanlagen er besitzt, und er wird in vielen Fällen voraussagen können, wann ein Mensch in seinem Leben an einer Krankheit leiden wird. Mit Vorsorge hat dies meist  wenig zu tun, denn die Therapie heißt oft Abtreibung. Es geht also, unterstreicht Silvia Matthies, um Selektion. Der Verdienst der Autorin ist es unzweifelhaft, auf solche den humanen Bestand unserer Gesellschaft gefährdende Tendenzen aufmerksam zu machen. Denn sie weist schlüssig nach: Wir befinden uns zur Zeit mitten drin in einer neuen Debatte um lebensunwertes Leben.
Michael Emmrich